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Warum sich schlechte Gewohnheiten beim Musizieren hartnäckig halten - und wie Du sie durchbrichst

Als Musiker:in kennst Du das sicher: Du übst stundenlang, aber bestimmte Bewegungsmuster wollen sich einfach nicht verbessern. Oder schlimmer noch - Du entwickelst Verspannungen und Schmerzen, die Dein Spiel beeinträchtigen. Der Grund dafür liegt tiefer, als Du vielleicht denkst.


Dein Gehirn als Gewohnheitstier


Unser Gehirn ist darauf programmiert, effizient zu arbeiten. Jede Bewegung, die wir wiederholen, wird zu einer automatischen Reaktion - einem neuronalen Pfad, der sich mit jeder Wiederholung verstärkt. Das Problem: Auch falsche Bewegungen werden so zu Gewohnheiten.


Wenn Du beispielsweise jahrelang mit verkrampften Schultern spielst, hat Dein Gehirn Millionen von Verbindungen geknüpft, die genau diese Haltung als "normal" abspeichern.

Deine Fähigkeiten und Deine Möglichkeit zu Veränderung sind nicht statisch. Du erschaffst und gestaltest Deine Erfahrungen ständig neu, basierend auf Deiner Umgebung und Deinen bisherigen Erlebnissen. Jedes Mal, wenn Du Dein Instrument übst, modifizierst Du Millionen von neuronalen Verbindungen in Deinem Gehirn. Diese Verbindungen führen zu erlerntem Verhalten, das sich über die Zeit automatisiert.


Der Lernprozess: Von bewusst zu unbewusst


Denk an die Anzahl der Stunden, Tage, Monate und Jahre, die Du gebraucht hast, um der Musiker zu werden, der Du heute bist. All die Dinge, über die Du nachdenken und auf die Du Dich konzentrieren musstest - und die jetzt selbstverständlich geworden sind. Du hast bereits eine riesige Zeitinvestition in das Erlernen und Entwickeln neuer Fähigkeiten gesteckt.


Nimm zum Beispiel etwas so Einfaches wie die Namen der Noten in der C-Dur-Tonleiter. Als Du diese Namen gelernt hast, hattest Du wahrscheinlich einen Lehrer, der sie Dir sagen konnte, sodass Du sie nicht selbst erraten musstest. Es dauerte einige Zeit und Konzentration, bis diese Information automatisch in Deinem Geist verfügbar war und Du sie in einen größeren Kontext einordnen konntest. Du musstest sie gründlich und immer wieder studieren, bis sie sich natürlich und einfach anfühlten.


Das Gleiche gilt für das Erlernen neuer Bewegungsfähigkeiten oder das Verändern gewohnheitsmäßiger Bewegungen. Selbst wenn Du Dein Instrument schon viele Jahre spielst, kann sich das Erlernen neuer Bewegungen manchmal anfühlen, als würdest Du ganz von vorne anfangen, weil Du neue Pfade im Gehirn erschaffst.



Die Anatomie verstehen - oder doch nicht?


Ist es wirklich notwendig, die Anatomie hinter unseren neuen Bewegungsfähigkeiten zu verstehen? Können wir nicht einfach ohne das anatomische Wissen spielen? Die Antwort ist: absolut. Es gibt viele Dinge, die wir ohne anatomisches Wissen tun können, und sie können trotzdem von Vorteil sein.

Aber - und das ist ein großes Aber - es kann unglaublich hilfreich sein. Besonders wenn Du anderen etwas erklären willst oder wenn Du verstehen möchtest, warum etwas nicht funktioniert. Es gibt Dir eine gemeinsame Sprache, mit der Du über Deinen Körper sprechen kannst und es kommt weniger zu Missverständnissen, da wir etwas konkret benennen können. Meine Erfahrung ist, dass erst durch dieses Wissen ich Zugang zu meinem vollen musikalischen Potenzial erhalten habe und sich Schmerzen dadurch aufgelöst haben. Und das beobachte ich bei vielen Musikern, die diesen Wissen erhalten und umsetzen.


"Warum kann ich nicht einfach natürlich spielen?"


Das ist eine Frage, die ich öfters höre. "Warum fühlt sich mein Spiel so verkrampft an? Warum kann ich mich nicht einfach entspannen?"

Hier ist die Sache: Was wir für "natürlich" halten, ist oft gar nicht so natürlich. Schau Dich doch mal um: Wir leben in einer völlig künstlichen Umgebung. Von klein auf stecken wir unsere Füße in starre Schuhe, obwohl sie eigentlich für komplexe Bewegungen gemacht sind. Wir laufen auf Asphalt statt auf weichem Waldboden. Wir sitzen stundenlang vor Bildschirmen.

Und dann verlangen wir von unseren Händen, die ursprünglich zum Beeren pflücken und Werkzeuge halten gemacht waren, dass sie millimetergenau die richtige Taste oder Saite treffen. Das ist, evolutionär gesehen, absolut spektakulär!

Also hör auf, Dich schlecht zu fühlen, wenn mal was schiefgeht. Was Du tust, ist an sich schon ein kleines Wunder.


Die Sache mit dem "Talent"


Kennst Du diese Leute, die scheinbar mühelos spielen können? Die schon als Kinder wie kleine Genies aussahen? Ja, die gibt es. Aber hier ist das Geheimnis: Auch sie müssen irgendwann bewusst an ihrer Technik arbeiten.


Was einmal einfach war, bleibt nicht automatisch einfach. Selbst die "talentiertesten" Musiker kommen an den Punkt, wo sie gezielt an ihren Bewegungsmustern arbeiten müssen. Der Unterschied ist nur: Sie fangen vielleicht von einem anderen Ausgangspunkt an.

Für uns andere heißt das: Nur bewusste, engagierte Arbeit bringt uns unserem natürlichen Potenzial näher. Aber das muss nicht langweilig oder frustrierend sein. Es kann sogar richtig spannend werden, wenn Du verstehst, was passiert.


Kulturelle Prägung und ihre Auswirkungen


Andere Gründe, warum wir unsere natürliche Bewegung, Technik und musikalischen Ausdruck nicht erreichen können, liegen möglicherweise in unserer unbewussten kulturellen Konditionierung. Verschiedene Kulturen sind auf unterschiedliche Weise mit ihren Körpern, der Natur und der Musik verbunden.

Wir wollen unbewusst "hineinpassen". Das ist weder gut noch schlecht, aber wir können davon profitieren, uns dessen bewusst zu werden und durch bewusste Entscheidungen zu experimentieren mit neuen Wegen, unseren Körper zu nutzen, auch wenn es sich anfangs ungewohnt für uns anfühlt.


Der Teufelskreis von Anspannung und Leistungsdruck


Wenn Du einige der größten Musiker der Welt beobachtest, gibt es immer etwas Einzigartiges daran, wie sie sich bewegen, unabhängig davon, ob es "richtig" oder "falsch", gesund oder ungesund aussieht. Ihr Service an der Musik ist völlig kompromisslos. Einer meiner Schüler schrieb einmal über große Musiker: "Es gibt keine Entschuldigung dafür, was sie am Instrument tun. Kein Gefühl von 'Oh, das habe ich nicht richtig hinbekommen. Oh, tut mir leid wegen dem.' Es sind sie, das Instrument, die Musik. Alle anderen Faktoren - Publikum, Schule, Gesellschaft oder Aufnahmen - spielen keine Rolle."


Das ist der Punkt: Um wirklich frei zu werden, musst Du über Deine kulturelle Konditionierung hinauswachsen. Du musst bereit sein, Dich ungewohnt zu fühlen, während Du neue Bewegungen lernst.


Angst macht steif, Sicherheit macht frei


Hier ist etwas Wichtiges: Wenn Du Angst hast, verkrampfst Du automatisch. Du fokussierst Dich auf Details, wirst perfektionistisch, drehst Dich um Dich selbst. Wenn Du Dich sicher fühlst, bist Du kreativer, intuitiver, freier.

Bestimmte Muskeln und Bewegungen sind stärker mit Deinem Sicherheitsgefühl verbunden als andere. Das bedeutet: Du kannst Deinen mentalen Zustand durch die Art beeinflussen, wie Du Deinen Körper beim Spielen einsetzt.


Ich hab mal einen Workshop für Studenten gegeben. Drei fortgeschrittene Studenten sagten alle: "Unser Problem ist psychologisch. Wir haben Angst vor dem Publikum." Nach nur zwei Minuten bestimmter Körperübungen - Kontakt zum Boden stärken, Unterstützung und Kraft aufbauen - fühlten sie sich plötzlich viel sicherer.

Das war nicht nur körperlich. Als sie das Stück nochmal spielten, war da eine völlig neue Klarheit und Kontrolle. Statt zu versuchen, das Problem mental zu lösen ("top-down"), hatten wir eine körperliche Bedingung geschaffen, die das psychologische Erleben veränderte ("bottom-up").


Wenn sich der Körper sicherer und klarer fühlt, können die musikalischen Absichten tief in uns automatisch und mühelos entstehen. Auf diese Weise erleben wir nicht nur einen positiven psychologischen Effekt, sondern auch größere musikalische Freiheit durch die Arbeit mit den physischen Aspekten des Spielens oder Singens.



Bewusste Körperarbeit als Schlüssel


Hier ist die wirklich gute Nachricht: Dein Gehirn bleibt Dein ganzes Leben lang veränderbar. Auch wenn Du schon jahrzehntelang spielst, kannst Du neue, effizientere Bewegungsmuster entwickeln. Studien zeigen: Schon nach wenigen Monaten bewusster Arbeit sind deutliche Verbesserungen möglich.

Das erste, was Du brauchst, ist Bewusstheit. Hör auf, nur auf das musikalische Ergebnis zu achten. Fang an zu spüren, WIE Du Dich bewegst. Welche Muskeln sind angespannt? Wo entstehen Verspannungen? Wie fühlt sich eine Bewegung an?


Wenn körperliche Probleme zu mentalen werden


Körperliche spiel- oder gesangsbezogene Verletzungen können immensen Stress verursachen. Über längere Zeiträume gehindert zu sein, zu performen, unter Schmerzen und Einschränkungen zu leiden oder stundenlang zu üben, ohne Ergebnisse zu erzielen - was als körperliches oder technisches Problem beginnt, kann zu erheblichem mentalen Stress führen, besonders wenn es keine offensichtliche Lösung oder einen Weg zur Genesung oder Verbesserung zu geben scheint.


Man könnte dann in den Glauben verfallen, dass die Ursache des physischen Limits rein mental war. Ich glaube, dass uns ausreichendes Wissen über den Körper als Musiker eine größere Fähigkeit gibt, die Grundursache der Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, zu analysieren. Es erlaubt uns zu unterscheiden zwischen dem, was körperlich und was psychologisch ist.


Ein vollständigeres Verständnis der Ursache und Wirkung, wie wir unsere Muskeln nutzen, kann potenziell Schuld, Scham und Versagensgefühle beseitigen. Was wir für einen Mangel an Fähigkeit halten könnten, könnte einfach eine Frage des Nichtwissens über eine bestimmte Koordinationsfertigkeit sein, die erforderlich ist, um die gewünschten Ergebnisse zu erzielen.


Intention als Schlüssel zum Ausdruck


Von klein auf lernen wir, musikalische Absichten auszudrücken - durch Nachahmung, Vorstellung, Gesten. Ohne klare musikalische Absicht wird Musik langweilig und flach. Absicht ist der Schlüssel zum Ausdruck.


Was auch immer Du Deinem Publikum vermitteln willst - diese Absicht bewegt Dich zur nächsten Note, organisiert die technischen Herausforderungen, erschafft den gewünschten musikalischen Ausdruck durch Bewegung.


Bei Musikern sind die Gehirnteile, die für die Planung und Organisation von Bewegungssequenzen zuständig sind, besonders stark entwickelt. Wenn Du Dir eine musikalische Absicht vorstellst, werden Neuronen aktiviert, die binnen Sekundenbruchteilen die gewünschte Aktion vorbereiten.


Kennst Du das mit der Milchtüte? Du denkst, sie ist voll, hebst sie hoch und merkst - sie ist fast leer. Du hebst sie viel schneller, als erwartet. Das zeigt, wie unbewusst wir Bewegungen organisieren, basierend auf früheren Erfahrungen.


Genau das passiert jedes Mal beim Musizieren. Jede Note, jede Phrase braucht eine bestimmte Antizipation der Muskeltätigkeit. Wenn wir einen Klang wiederholen, passen wir unbewusst das Muskelmuster an, um unserer musikalischen Absicht zu entsprechen. So verfeinern wir unsere Fähigkeiten, Stunde um Stunde, Jahr für Jahr.


Fazit: Geduld und Bewusstheit führen zum Erfolg


Schlechte Gewohnheiten zu durchbrechen dauert. Das ist einfach so. Aber jeder bewusste Moment, in dem Du eine alte Bewegung durch eine bessere ersetzt, stärkt den neuen neuronalen Pfad.

Mit der Zeit wird die effizientere Bewegung zur neuen Gewohnheit. Und Dein Spiel wird nicht nur gesünder - es wird auch ausdrucksvoller, freier, mehr Du selbst.

Also hab Geduld mit Dir. Du veränderst gerade Dein Gehirn. Das ist eine ziemlich große Sache.

 
 
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