Die versteckten Gesichter der Bühnenangst bei Musikern: Was Deine innere Stimme Dir wirklich sagt
- reginagleim
- 30. Apr.
- 13 Min. Lesezeit
Du stehst kurz vor deinem Auftritt. Dein Instrument ist gestimmt, Dein Programm sitzt – und doch ist da dieses leise Flüstern im Hintergrund. Diese kaum hörbare Stimme, die Zweifel sät, die Deinen Fokus stört, die Dich von Deiner künstlerischen Kraft trennt?
Als Coach für Musiker*innen begegne ich täglich Künstlern wie Dir. Virtuosen, Newcomer, erfahrene Bühnenhasen und aufstrebende Talente – fast alle kennen dieses Gefühl. Und manchen Musikern, denen ich begegne erzählen mir auch manchmal: "Ich habe keine Bühnenangst."
Die Wahrheit ist: Bühnenangst und Lampenfieber sind Meister der Verkleidung. Sie tragen raffinierte Masken und verstecken sich hinter Aussagen, Überzeugungen und Verhaltensweisen, die auf den ersten Blick nichts mit Angst zu tun haben. Sie flüstern Dir Sätze ins Ohr, die vernünftig klingen, die sogar nach künstlerischem Ethos oder Professionalität klingen – und doch heimlich Deine kreative Freiheit einschränken.
In diesem Artikel möchte ich Dich auf eine Entdeckungsreise mitnehmen: zu den versteckten Gesichtern der Bühnenangst. Vielleicht erkennst Du Dich in dem einen oder anderen Muster wieder. Und vielleicht ist diese Erkenntnis der erste oder ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einer neuen künstlerischen Freiheit.

Wie sich Bühnenangst tarnt: 10 versteckte Anzeichen
1. Der Perfektionist
"Ich muss noch mehr üben. Es ist einfach noch nicht gut genug."
Kennst Du diesen nie endenden Dialog mit Dir selbst? Du hast stundenlang geübt, beherrschst Dein Programm eigentlich perfekt – und trotzdem gibt es immer diesen einen Lauf, diese eine Passage, die "noch besser werden muss". Du verschiebst Auftrittsmöglichkeiten, weil Du "noch nicht bereit" bist. Du nimmst ein Stück aus dem Programm, weil es "noch nicht sitzt", obwohl es eigentlich schon sehr gut klingt.
Was wie Hingabe und Professionalität wirkt, kann in Wahrheit ein Schutzschild sein. Hinter dem ständigen Streben nach Perfektion versteckt sich oft die Angst vor Fehlern auf der Bühne, die Angst vor dem Urteil des Publikums, vor dem Moment der Wahrheit. Der Perfektionist übt nicht primär aus Liebe zur Musik oder aus gesundem Ehrgeiz – sondern aus der tiefen Furcht, nicht zu genügen.
Die Perfektion wird zur unerreichbaren Hürde, die immer wieder ein Stück höher gelegt wird, sobald Du Dich ihr näherst. Sie ist eine Fata Morgana, die Dich in der Übungszelle gefangen hält und Dir die Freiheit des authentischen Ausdrucks nimmt. Denn eines ist sicher: Wahre künstlerische Größe entsteht nicht aus fehlerfreier Perfektion, sondern aus dem Mut zur Verletzlichkeit und dem Vertrauen in Deine eigene künstlerische Stimme.
2. Der Techniker
"Ich konzentriere mich lieber auf die technische Seite meines Spiels."
Der technische Aspekt Deines Instruments fasziniert Dich. Du kannst stundenlang über Bogentechnik, Ansatz, Atemstütze oder die perfekte EQ-Einstellung diskutieren. Du begeisterst Dich für die neuesten Gadgets, verbringst mehr Zeit mit dem Optimieren Deines Equipments als mit dem emotionalen Ausdruck Deiner Musik. In Proben achtest Du penibel auf jedes technische Detail – aber wenn es um Interpretation und emotionale Tiefe geht, wirst Du vage oder zurückhaltend.
Diese Fokussierung auf die Technik kann eine subtile Form der Vermeidung sein. Manche Musiker flüchten sich in die scheinbar objektive Welt der technischen Details, weil dort klare Regeln herrschen, weil dort messbare Ergebnisse möglich sind. Die technische Perfektion wird zum sicheren Hafen, in dem man sich vor der beängstigenden Aufgabe verstecken kann, sich emotional zu zeigen und verletzlich zu sein.
Doch Technik ist nur das Vehikel, nicht das Ziel der Musik. Sie ist die Grundlage, auf der sich Dein künstlerischer Ausdruck entfalten kann – nicht der Ersatz dafür. Die größten Künstler sind nicht unbedingt die mit der makellosesten Technik, sondern jene, die ihre technischen Fähigkeiten in den Dienst ihrer emotionalen Ausdruckskraft stellen. Die wirkliche Herausforderung liegt nicht in der Beherrschung Deines Instruments, sondern in der Bereitschaft, durch dieses Instrument hindurch Dein wahres Selbst sprechen zu lassen.
3. Der Skeptiker
"Auftritte sind überbewertet. Die eigentliche Kunst passiert im Studio."
"Live-Performances sind eigentlich nicht so wichtig", sagst Du vielleicht. "Die wahre künstlerische Arbeit findet im Proberaum statt, im Studio, in der stillen Kompositionsarbeit." Du diskutierst eloquent über die Oberflächlichkeit der Bühnenpräsenz, die Unzulänglichkeiten von Live-Situationen, die mangelnde Tiefe des durchschnittlichen Konzertpublikums. Vielleicht hast Du Dir eine komplexe künstlerische Philosophie zurechtgelegt, in der das Live-Erlebnis einen untergeordneten Stellenwert einnimmt.
Diese skeptische Haltung ist eine der raffiniertesten Schutzstrategien gegen Bühnenangst: Wer die Bedeutung von Live-Auftritten intellektuell herabsetzt, muss sich nicht mit der emotionalen Herausforderung auseinandersetzen, die sie darstellen. Der Skeptiker erschafft eine Hierarchie künstlerischer Werte, in der genau die Aspekte des Musikerlebens abgewertet werden, die am meisten Angst machen.
Doch diese Haltung beraubt Dich einer der kraftvollsten Dimensionen des Musikerlebens: dem direkten, unvermittelten Austausch mit Deinem Publikum, dem magischen Moment gemeinsam erlebter Musik, der transformativen Kraft des Live-Erlebnisses. Die Geschichte der Musik ist voll von Momenten, in denen genau diese flüchtige, nicht reproduzierbare Live-Situation zu künstlerischen Höhepunkten geführt hat, die im sterilen Umfeld eines Studios nie entstanden wären.
4. Der Kontrolleur
"Ich spiele nur, wenn die Bedingungen optimal sind."
Die Akustik muss perfekt sein. Der Flügel muss frisch gestimmt sein. Die Beleuchtung darf nicht zu grell sein. Das Publikum sollte nicht zu nah sitzen. Der Raum muss die richtige Temperatur haben. Die Soundanlage muss hochwertig sein. Du hast eine lange Liste von Bedingungen, die erfüllt sein müssen, bevor Du Dich auf der Bühne wohlfühlst – und wehe, wenn eine davon nicht stimmt!
Das übermäßige Bedürfnis nach Kontrolle über alle äußeren Umstände ist oft ein deutliches Zeichen für Bühnenangst. Der Kontrolleur versucht, alle Variablen zu eliminieren, die das Konzerterlebnis unberechenbar machen könnten. Er erschafft ein Netz aus Anforderungen und Bedingungen, die ihm die Illusion von Sicherheit geben.
Doch die Wahrheit ist: Ein Live-Auftritt ist von Natur aus nicht vollständig kontrollierbar. Es wird immer Überraschungsmomente geben, unerwartete Reaktionen, technische Herausforderungen. Und genau in diesem Spannungsfeld aus Vorbereitung und Improvisation, aus Kontrolle und Loslassen liegt die besondere Magie des Live-Erlebnisses. Die größten Künstler sind nicht jene, die perfekte Bedingungen benötigen, sondern jene, die aus jeder Situation das Beste machen können – die flexibel bleiben, die im Moment leben, die aus vermeintlichen Störungen sogar neue kreative Impulse gewinnen.
5. Der Intellektuelle
"Meine Musik ist zu komplex für ein breites Publikum."
Du betrachtest Deine Musik vorwiegend als intellektuelles Konstrukt. Du sprichst lieber über Harmoniestrukturen, kompositorische Konzepte und musiktheoretische Feinheiten als über die emotionale Wirkung Deiner Musik. In Interviews und Programmnotizen verwendest Du eine hochspezialisierte Fachsprache, die nur Eingeweihte verstehen. Du bist überzeugt davon, dass Deine Musik "zu anspruchsvoll" oder "zu komplex" für ein durchschnittliches Publikum ist und fühlst Dich sogar ein wenig stolz darauf.
Diese intellektuelle Haltung kann eine raffinierte Form der Abwehr sein. Manche Musiker rationalisieren ihre Angst, indem sie sich hinter komplexen Konzepten und theoretischen Überlegungen verstecken. Sie erschaffen eine intellektuelle Distanz zwischen sich und ihrem Publikum – und schützen sich so vor der Verletzlichkeit, die mit direkter emotionaler Kommunikation einhergeht.
Der Intellektuelle versteckt sich hinter einem Wall aus Fachwissen und Komplexität. Er schafft eine Art elitären Raum, in dem nur jene willkommen sind, die den "Code" verstehen. So muss er sich nicht der beängstigenden Aufgabe stellen, eine unmittelbare emotionale Verbindung zu einem breiteren Publikum herzustellen.
6. Der Bescheidene
"Ich stehe nicht gern im Mittelpunkt. Ich lasse lieber meine Musik sprechen."
"Bescheidenheit ist eine Tugend" – mit diesem Mantra rechtfertigst Du Deine tiefe Abneigung gegen jede Form der Selbstdarstellung. Du lehnst Interviews ab, versteckst Dich in der letzten Reihe des Ensembles, vermeidest Solopassagen. Bei Applaus senkst Du den Blick, bei Komplimenten wechselst Du schnell das Thema. Du nimmst lieber eine unterstützende Rolle ein und überlässt anderen das Rampenlicht. Auf Social Media teilst Du kaum etwas über Deine musikalischen Projekte, weil das ja "angeberisch" wäre.
Extreme Bescheidenheit erscheint zunächst wie eine positive Eigenschaft. Doch in ihrer übertriebenen Form kann sie ein Schutzschild sein – eine Strategie, um sich vor der Exponierung zu schützen, die mit künstlerischem Ausdruck unweigerlich verbunden ist. Die vermeintliche Tugend wird zur Fessel, die Dich davon abhält, die Bühne einzunehmen, die Dir eigentlich zusteht.
Der "Bescheidene" verbirgt oft eine tiefe Angst davor, gesehen zu werden – mit all seinen Stärken und Schwächen. Er fürchtet das Urteil anderer, das Gefühl der Exponierung, die Verantwortung, die mit Sichtbarkeit einhergeht. Die übertriebene Bescheidenheit wird zum perfekten Versteck: sozial akzeptiert und sogar bewundert, und doch ein wirksames Mittel, um sich vor der Angst zu schützen.
Wahre künstlerische Präsenz erfordert jedoch die Bereitschaft, gesehen zu werden – nicht aus Eitelkeit, sondern aus dem tiefen Wunsch heraus, Deine künstlerische Vision zu teilen. Es gibt einen bedeutsamen Unterschied zwischen Egomanie und dem gesunden Selbstbewusstsein, das nötig ist, um Deiner Musik den Raum zu geben, den sie verdient. Die großen Künstler verstehen, dass es nicht um sie selbst geht – und gerade dieses Verständnis gibt ihnen die Freiheit, im Dienste ihrer Kunst voll und ganz präsent zu sein.
7. Der Gelassene
"Ich bin bei Auftritten einfach total entspannt."
"Lampenfieber? Kenne ich nicht." - "Nervosität vor Konzerten ist mir fremd." - "Ich bin auf der Bühne immer völlig cool." Diese oder ähnliche Sätze sind das Markenzeichen des "Gelassenen". Er behauptet mit einer erstaunlichen Selbstverständlichkeit, dass er keinerlei Aufregung vor oder während Auftritten verspürt. Er wirkt nach außen ruhig, gefasst und fast schon unnatürlich entspannt angesichts der Herausforderung, vor Publikum zu performen.
Paradoxerweise kann diese betonte Gelassenheit eines der subtilsten Anzeichen für unterdrückte Bühnenangst sein. Der "Gelassene" hat seine Nervosität nicht überwunden – er hat sie so tief vergraben, dass er sie selbst nicht mehr wahrnimmt. Er hat sich eine Fassade der Unerschütterlichkeit aufgebaut, hinter der sich ein komplexes System der Angstverdrängung verbirgt.
Diese Verdrängung hat ihren Preis: Während andere Musiker ihre Nervosität zumindest spüren und dadurch lernen können, mit ihr umzugehen, fehlt dem "Gelassenen" dieser Zugang zu seinen eigenen Empfindungen. Die permanente Leugnung seiner körperlichen und emotionalen Reaktionen verhindert einen konstruktiven Umgang mit dem natürlichen Stress, der mit Bühnensituationen verbunden ist.
Die vollständige Entspannung, die er propagiert, entpuppt sich bei näherem Hinsehen oft als emotionale Abflachung oder Dissoziation – als Abspaltung von den eigenen Gefühlen, die sich dann auf andere Weise Bahn brechen: durch plötzliche unerklärliche Erschöpfungszustände nach Konzerten, durch somatische Beschwerden wie Rückenschmerzen oder Verdauungsprobleme, durch subtile Sabotage der eigenen Karriere oder durch ein diffuses Gefühl der Unzufriedenheit mit den eigenen Auftritten, das er sich nicht erklären kann.
Der "Gelassene" geht dadurch einen gefährlichen Kompromiss ein: Er tauscht die bewusste Auseinandersetzung mit seiner Nervosität gegen eine scheinbare Ruhe, die ihn in Wahrheit von seinem vollen künstlerischen Potenzial trennt. Denn ein gewisses Maß an bewusst erlebter und kanalisierter Erregung ist nicht nur normal, sondern sogar förderlich für eine ausdrucksstarke Performance.
Der Weg von der künstlichen Gelassenheit zur echten künstlerischen Präsenz führt über die Wiederentdeckung der eigenen Empfindungsfähigkeit – über die Bereitschaft, die vielfältigen Gefühle zuzulassen, die mit dem Auftritt verbunden sind, und sie als wertvolle Informationen über die eigenen Bedürfnisse und Grenzen zu verstehen. Erst wenn der "Gelassene" lernt, seine Maske der permanenten Entspanntheit abzulegen und sich seiner tatsächlichen Erfahrung zu stellen, kann er jene tiefere Form der Gelassenheit finden, die nicht aus Verdrängung, sondern aus Akzeptanz erwächst – eine Gelassenheit, die Raum lässt für das volle Spektrum menschlicher Gefühle und gerade dadurch eine neue Dimension künstlerischer Freiheit eröffnet.
8. Der Vermeider
"Ich bin mehr der Komponist/Produzent als der Performer."
"Ich arbeite lieber im Hintergrund." – Diese Aussage klingt zunächst nach einer harmlosen Präferenz, nach einer legitimen künstlerischen Entscheidung. Du konzentrierst Dich auf das Komponieren, Arrangieren oder Produzieren und überlässt die eigentliche Performance anderen. Du stehst lieber hinter dem Mischpult als auf der Bühne, sitzt lieber im Tonstudio als im Konzertsaal. Vielleicht sprichst Du sogar mit einer gewissen Herablassung über "reine Performer", die "nur" die Ideen anderer umsetzen.
Natürlich kann diese Fokussierung auf den kreativen Prozess abseits der Bühne eine authentische künstlerische Neigung sein. Doch manchmal verbirgt sich dahinter eine subtile Strategie der Vermeidung – ein Weg, um der konfrontativen Situation des Live-Auftritts auszuweichen, ohne sich eingestehen zu müssen, dass man Angst davor hat.
Der "Vermeider" hat eine ausgeklügelte Begründung für seine Abneigung gegen Auftritte entwickelt. Er hat sich eine Identität erschaffen, in der das Performen gar nicht erst als Option auftaucht – und muss sich so nicht mit der Angst auseinandersetzen, die damit verbunden sein könnte.
Doch diese Spezialisierung kann auch eine Einschränkung sein. In der Musikgeschichte haben viele der einflussreichsten Künstler beide Welten vereint: Sie waren sowohl brillante Schöpfer als auch überzeugende Performer ihrer Werke.
Die Frage ist nicht, ob eine Präferenz für die Arbeit abseits der Bühne legitim ist – natürlich ist sie das. Die Frage ist vielmehr, ob diese Präferenz auf einer freien Entscheidung basiert oder auf uneingestandener Angst.
9. Der Kritiker
"Das Publikum versteht sowieso nicht, was ich ausdrücken will."
Du hast eine klare Vorstellung davon, wie "uninformiert" oder "oberflächlich" Dein Publikum ist. Nach Konzerten beklagst du Dich über die mangelnde Aufmerksamkeit der Zuhörer, ihre Unfähigkeit, die Feinheiten Deiner Interpretation zu erkennen, ihre fehlende Bildung in Bezug auf Dein Genre. Vielleicht hast Du eine ganze Theorie darüber entwickelt, warum das zeitgenössische Publikum nicht mehr in der Lage ist, "wahre Kunst" zu würdigen. Du fühlst Dich unverstanden und missverstanden – und ein Teil von Dir genießt sogar dieses Gefühl der Isolation, des Nicht-verstanden-Werdens.
Diese kritische Haltung gegenüber dem Publikum ist eine klassische Abwehrstrategie: Die eigene Angst wird auf die vermeintliche Unfähigkeit der Zuhörer projiziert. Der "Kritiker" verlagert die Verantwortung für sein eigenes Unbehagen nach außen – es liegt nicht an seiner Angst vor Verbindung, sondern an der Unzulänglichkeit des Publikums.
Die Abwertung des Publikums schafft eine schützende Distanz. Wenn Du davon überzeugt bist, dass Deine Zuhörer Dich sowieso nicht verstehen können, musst Du Dich nicht dem Risiko aussetzen, wirklich gesehen und gehört zu werden – mit all Deiner Verletzlichkeit, all Deinen Zweifeln, all Deiner menschlichen Unvollkommenheit.
Doch diese Haltung beraubt Dich einer der tiefsten Erfüllungen künstlerischen Schaffens: der Erfahrung echter Verbindung über die Musik hinweg.
Der "Kritiker" verkennt eine fundamentale Wahrheit: Das Publikum muss nicht jedes technische Detail verstehen, nicht jede theoretische Feinheit erfassen, um von Deiner Musik berührt zu werden. Die tiefste Form des Verstehens liegt jenseits des Intellekts – in der unmittelbaren emotionalen Resonanz, die keine musikwissenschaftliche Bildung voraussetzt.
10. Der Abwesende
"Wenn ich spiele, bin ich wie in Trance, ich nehme das Publikum gar nicht wahr."
Du beschreibst Deine Bühnenauftritte als eine Art Trancezustand. Du sagst, dass Du während des Spielens vollkommen in Deine eigene Welt eintauchst, dass Du das Publikum komplett ausblendest, dass Du in einem Zustand der völligen Selbstvergessenheit agierst. Du schließt vielleicht sogar die Augen während Deines gesamten Auftritts, drehst Dich vom Publikum weg oder versteckst Dich hinter deinem Instrument.
Diese völlige Abkopplung vom Publikum kann ein Zeichen für eine spezifische Form der Angstbewältigung sein: die Dissoziation. Der "Abwesende" flüchtet sich in einen Zustand der psychischen Abwesenheit, um mit dem Stress der Performance umzugehen. Er schaltet seine Wahrnehmung für die äußere Realität ab und zieht sich vollständig in seine innere Welt zurück.
Natürlich kann ein gewisser Grad an Versunkenheit im musikalischen Geschehen förderlich und sogar notwendig sein. Flow-Zustände, in denen Du völlig im musikalischen Moment aufgehst, gehören zu den kostbarsten Erfahrungen des Musikerlebens. Doch wenn diese Versunkenheit zur vollständigen Abkapselung wird, zum kompletten Ausblenden des Publikums und der Performance-Situation, kann sie auch eine Form der Vermeidung darstellen – ein psychologischer Mechanismus, um mit der Angst vor dem direkten Kontakt umzugehen.
Der "Abwesende" verpasst die Chance auf eine der bereicherndsten Dimensionen des Live-Auftritts: den energetischen Austausch mit dem Publikum, das wechselseitige Geben und Nehmen, das eine Performance zu einem einzigartigen, unwiederholbaren Ereignis macht. Die größten Bühnenkünstler beschreiben ihre intensivsten Momente nicht als Zustände der Abwesenheit, sondern der höchsten Präsenz – eines gesteigerten Bewusstseins für alles, was im Raum geschieht, einer tiefen Verbundenheit mit dem Publikum und dem gemeinsam erlebten musikalischen Moment.
Die Herausforderung liegt nicht darin, das Publikum auszublenden, sondern zu lernen, mit seiner Anwesenheit umzugehen – die Energie der Zuhörer nicht als Bedrohung zu empfinden, sondern als Ressource, die Deiner Performance eine zusätzliche Dimension verleihen kann.

Meine eigene Reise und meine Masken
Als ich begann, mich mit dem Thema Bühnenangst zu beschäftigen, war das nicht nur ein berufliches Interesse – es war ein zutiefst persönliches. Beim Schreiben dieses Artikels habe ich nicht nur meine Beobachtungen von vielen Musikern und Künstlern mit einbezogen, sondern auch über meine Masken erzählt, und ich möchte offen mit Dir teilen, welche das waren.
Der "Perfektionist" (Punkt 1) war lange Zeit mein treuester Begleiter. Ich habe teilweise sogar Auftrittsmöglichkeiten abgelehnt, weil "ich noch nicht bereit bin" oder "es noch nicht perfekt sitzt". Ich verbrachte unzählige Stunden im Übungsraum, nicht aus reiner Freude am Musizieren, sondern getrieben von der Angst, nicht zu genügen. Diese endlose Jagd nach der Perfektion hat mich von vielen wertvollen Erfahrungen abgehalten und mir die Leichtigkeit genommen, die ich in der Musik eigentlich suchte.
Auch den "Bescheidenen" (Punkt 6) kenne ich nur zu gut. "Ich will mich nicht in den Vordergrund drängen" – wie oft habe ich diesen Satz benutzt, um meine tiefe Angst vor Sichtbarkeit zu verbergen? Ich habe Komplimente abgewehrt, meine Erfolge kleingeredet und mich in unterstützenden Rollen versteckt, anstatt den Platz einzunehmen, der mir zustand. Die vermeintliche Tugend der Bescheidenheit wurde zu meinem perfekten Versteck.
Und schließlich der "Abwesende" (Punkt 10) – meine bevorzugte Strategie auf der Bühne. Ich tauchte vollständig in meine eigene Welt ab, schloss die Augen und blendete das Publikum komplett aus. Was ich damals für tiefe künstlerische Versenkung hielt, erkenne ich heute als das, was es wirklich war: eine Flucht aus der beängstigenden Realität des Auftritts, eine Vermeidungsstrategie, die mich vor dem direkten Kontakt mit meinen Zuhörern "schützte".
Die Erkenntnis dieser Muster war für mich nicht beschämend, sondern befreiend. Sie öffnete mir die Tür zu einem bewussteren Umgang mit meiner Nervosität und zu einer neuen Dimension künstlerischer Präsenz. Heute weiß ich: Meine Angst ist nicht mein Feind, sondern ein Teil meiner künstlerischen Sensibilität – und ich kann mit ihr auf der Bühne stehen, statt gegen sie anzukämpfen.
Wie ist es bei Dir?
Während Du diesen Artikel liest: Welche dieser Masken kommen Dir bekannt vor? Welche Strategien hast Du entwickelt, um mit Deiner Bühnenangst umzugehen? Vielleicht erkennst Du Dich in einer dieser Beschreibungen wieder, vielleicht in mehreren – oder Du hast eine ganz eigene Maske entwickelt, die hier nicht beschrieben wurde.
Ich würde mich freuen, von Deinen Erfahrungen zu hören. Denn eines habe ich in meiner Arbeit mit Musikern immer wieder erfahren: Der offene Austausch über unsere Ängste ist oft der erste Schritt zu ihrer Überwindung. Das Gefühl, mit seinen Ängsten nicht allein zu sein, kann unglaublich befreiend sein.
Warum es wichtig ist, diese Masken zu erkennen
Diese versteckten Formen der Bühnenangst zu erkennen, ist der erste Schritt zu einer tiefgreifenden künstlerischen Befreiung. Jede dieser Masken hat ihre eigene Geschichte, ihre eigene innere Logik. Sie sind entstanden als Schutzstrategien, als kreative Anpassungen an die besonderen Herausforderungen des Künstlerdaseins. Und für eine gewisse Zeit haben sie Dir gute Dienste geleistet – sie haben Dich funktionsfähig gehalten, Dir erlaubt, trotz Deiner Ängste weiter Musik zu machen.
Doch was einst als Schutz diente, kann mit der Zeit zur Einschränkung werden. Diese Masken bieten zwar kurzfristigen Schutz vor Angst und Verletzlichkeit, doch langfristig verhindern sie genau das, wonach Du Dich als Künstler am meisten sehnst: vollständige künstlerische Entfaltung, authentische Präsenz, tiefe Verbindung mit Deinem Publikum, das Gefühl absoluter Freiheit im Ausdruck.
Die Masken zu erkennen bedeutet nicht, sie gewaltsam abzureißen. Es bedeutet vielmehr, sie mit Mitgefühl zu betrachten, ihre schützende Funktion zu würdigen und gleichzeitig zu verstehen, wie sie Dich einschränken. Es bedeutet, langsam hinter die Maske zu blicken und die wahren Bedürfnisse und Ängste zu erkennen, die sich dahinter verbergen.
Dein Weg zur künstlerischen Freiheit
Als Künstler geht es letztlich darum, Dich zu zeigen – mit all Deiner Kraft, Verletzlichkeit und Lebendigkeit. Wahre künstlerische Freiheit entsteht nicht durch Verdrängung oder Vermeidung von Angst, sondern durch einen bewussten, akzeptierenden Umgang mit ihr. Sie entsteht, wenn Du erkennst, dass Du nicht mit Deiner Angst kämpfen musst, sondern mit ihr auf die Bühne gehen kannst – nicht als Feind, sondern als vertrauter Begleiter.
Wenn Du Dich in einigen der Masken wiedererkannt hast ist das kein Grund zur Beunruhigung – im Gegenteil. Diese Erkenntnis ist der Anfang einer spannenden Reise zur Erweiterung Deiner künstlerischen Ausdruckskraft. Der erste Schritt zur Veränderung ist immer das Bewusstsein, das Erkennen der eigenen Muster.
Der nächste Schritt ist, diese Muster nicht mehr als Feind zu sehen, sondern als Wegweiser zu Deinem künstlerischen Wachstum. Jede dieser Masken zeigt Dir einen Aspekt Deiner künstlerischen Persönlichkeit, der nach Integration, nach Heilung, nach Befreiung ruft.
Begleitung auf deinem Weg
Als Coach für Musiker begleite ich Künstler dabei, ihre versteckten Ängste zu erkennen und in kreative Energie umzuwandeln. Denn die Überwindung von Bühnenangst bedeutet nicht, keine Angst mehr zu haben – sondern mit ihr zu wachsen und sie als kraftvolle Ressource für Deine künstlerische Ausdruckskraft zu nutzen.
Gemeinsam erschaffen wir einen Raum, in dem Du experimentieren, scheitern und wachsen darfst. Einen Raum, in dem Du lernen kannst, Deine Nervosität nicht als Hindernis zu sehen, sondern als Energie, die Dir zur Verfügung steht. Und dann wandelt sich die Angst ganz oft irgendwann in Freude.
Der Weg zur Überwindung von Bühnenangst ist so individuell wie Deine Musik selbst. Er erfordert keine standardisierten Techniken, sondern ein tiefes Verständnis Deiner einzigartigen künstlerischen Persönlichkeit und der spezifischen Herausforderungen, mit denen Du konfrontiert bist.
Ich danke Dir fürs Lesen! :)